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Eigensinn macht Spaß



„Eigensinn macht Spaß“

- Hermann Hesse


Bei meiner Angewohnheit immer mal wieder am Bücherregal entlangzugehen und zu schauen, welches lange nicht gelesene Buch mich „anspringt“, war es kürzlich das kleine Lesebüchlein von Hermann Hesse mit dem Titel „Eigensinn macht Spaß“.


Eigensinn


Der Begriff „Eigensinn“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch negativ besetzt. Warum eigentlich? Eigensinn wird Kindern zugeschrieben, wenn sie nicht das tun, was Erzieher wollen. „Wer eigensinnig ist, gehorcht … dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘“ (Hesse). Was ist daran falsch?

Der Eigensinn unterliegt einigen Missverständnissen. Er wird häufig - fälschlicherweise - mit Egoismus gleichgesetzt. Was unterscheidet die beiden Begriffe? Ein egoistischer Mensch ist jemand, der „sich zum Mittelpunkt der Welt macht“ (Schopenhauer) und nur die eigenen Interessen im Blick hat.

Ein eigensinniger Mensch kennt seine Bedürfnisse und Wünsche, weiß um seine Leistungen und sein Können, und er ist in der Lage, das zu artikulieren.


Denkfalle: Gemeinsinn versus Eigensinn


Gerade in der zurückliegenden Pandemiezeit wurde immer wieder ein Gegensatz zwischen Gemeinsinn und Eigensinn konstruiert und subtil mit gut und böse unterlegt.

Unter Gemeinsinn wird eine ethische Haltung verstanden, verbunden mit der Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft und das Gemeinwohl einzusetzen. Für mich heißt das, die Anderen wahrzunehmen, sie einzubeziehen und in größeren Zusammenhängen zu denken.

Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Eine wichtige Voraussetzung für das Erkennen und Anerkennen des Gegenübers ist das Sich-Selbst-Kennen, verbunden mit einem Gefühl für den eigenen Wert, das Selbstwertgefühl.

Wer keinen Sinn für das Eigene hat, kann schwerlich einen Sinn für das Andere entwickeln.


Und wo hört der Spaß auf?


Der Spaß hört auf, wenn der Mensch das Eigene nicht finden/entwickeln kann und

  • sich übermäßig anpasst oder

  • ein fiktives Größenselbst ausbildet, das von anderen Anpassung an seine Interessen erwartet.

Zu viel Anpassung: Der Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft, nach Gesehen-werden, persönlicher Bestätigung und Anerkennung sind Grundbedürfnisse des Menschen. Überwertige Anpassung entsteht, wenn der Mensch, keine eigenen Wünsche haben darf und Angst hat, Eigenwillen zu äußern; wenn er das machen muss, was die anderen wollen bzw. wenn er geliebt wird für bestimmte erwünschte Verhaltensweisen und Leistungen. Menschen können unter diesen Bedingungen sogar herausragende Fähigkeiten entwickeln und Leistungen erbringen.


Zu wenig Anpassung/Größenselbst: „Selbstakzeptanz und Selbstachtung entstehen in einem interaktiven Prozess zwischen dem Ich und den anderen“ (Verena Kast). Wenn der Mensch in seiner sozialen Gemeinschaft keine angemessene Resonanz für sich und seinen Wert erfährt, weiß er nicht, wer er eigentlich ist und ihm fehlt in der Regel die Einfühlung in andere. Dominanz, Selbstüberhöhung und Fremdabwertung sind die Folge.


Erfahrungen aus dem Coaching


Bei Hesse heißt es: „Alle Dinge, die man gegen sein Gefühl und gegen sein inneres Wesen tut, anderen zuliebe, sind nicht gut, und müssen früher oder später teuer bezahlt werden.“ (S.99)

Dies erlebe ich im Coaching, sowohl bei jungen Menschen, die am Anfang des Berufsweges stehen als auch bei denjenigen, die nach zwanzig und mehr Jahren für sich Bilanz ziehen.

Absolvent eines Masterstudiums: Ich habe meine Sportarten gewählt, weil mein Freund sie gewählt hat. Ich habe mein Studienfach gewählt, weil mein Vater mir dringend dazu geraten hat. Jetzt stehe ich vor der Entscheidung, mich für meine erste Stelle zu entscheiden. Diesmal will ich eine ganz eigene Entscheidung treffen!

Erfahrene Führungskraft, kommt nach einer gesundheitlichen Krise mit Fragen wie: War’s das? Was will ich noch? Bisher war ich quasi süchtig nach Anerkennung, jetzt fühlt sich das für mich fast schal an. Will ich das noch, steige ich aus und mache was ganz anderes?


Charakter – Persönlichkeit – Originalität


„Wo man einigermaßen den Willen hat, Eigensinn wirklich als Tugend […] gelten zu lassen, da schwächt man den rauhen Namen dieser Tugend nach Möglichkeit ab. ‚Charakter‘ oder ‚Persönlichkeit‘ – das klingt nicht so herb und beinah lasterhaft wie ‚Eigensinn‘. Das tönt schon hoffähiger, auch ‚Originalität‘ läßt man sich zur Not gefallen. Letztere nur bei geduldeten Sonderlingen, bei Künstlern und solchen Käuzen.“ (Hesse, 1917)


Zwei Menschen, die für mich im positiven Sinne mit einer guten Portion Eigensinn ausgestattet waren, sind Christo & Jeanne-Claude, ein Künstlerehepaar, das mit seinem schöpferischen Eigensinn Kunstprojekte in die Welt gebracht hat, die Millionen Menschen begeistert haben – mich inklusive. Vor wenigen Wochen durfte ich in Paris den verpackten Arc de Triomphe bestaunen. 1961 als Idee in die Welt gebracht, 2021 postum realisiert. Auch andere Projekte haben mich fasziniert wie die „Floating Piers“ im Iseo-See oder das „Big Air Package“ im Gasometer in Oberhausen.


„Deine Visionen werden nur klar werden, wenn du in dein eigenes Herz schaust. Wer außerhalb schaut, träumt. Wer im Innern schaut, erwacht.“

- Carl Gustav Jung


 

Literatur:


Hesse, Hermann: Eigensinn macht Spaß. Individuation und Anpassung. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1986. (Bei den Texten handelt es sich um Auszüge aus Hesses Werken, den Text über Eigensinn hat er 1917 geschrieben.)


Verena Kast: Vom Sinn des Ärgers. Vom Anreiz zu Selbstbehauptung und Selbstentfaltung. Kreuz Verlag, Stuttgart 2005


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