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Rettet die Zärtlichkeit!



„Unter Liebe verstehe ich die Mischung von Verlangen, Zärtlichkeit und gegenseitigem Verstehen, die mich an eine bestimmte Person bindet.“

- Albert Camus


Den Aufkleber „Rettet die Zärtlichkeit!“ habe ich mir mit Anfang zwanzig in mein Auto geklebt und heute wieder. Warum bzw. wozu? Damals war ich jung, verliebt, das Leben war leicht und ich hatte Lust an der Provokation. Ich wollte erleben, wie Menschen auf meinen Slogan reagieren.

Und heute? Mit etlichen Jahren Lebenserfahrung und fast einem Jahr Kontaktbeschränkungen wegen Corona denke ich wieder über das Zärtlichkeitsthema nach – mit Ernsthaftigkeit und teils mit Sorge.


Ich habe im Coaching mit meinen Coachees – egal ob Mann oder Frau – noch nie soviel über ihren Umgang mit den eigenen Kindern gesprochen, die sich im Homeschooling befinden und keine Freunde treffen dürfen, wie derzeit. Thematisiert wird das große Bedürfnis der Kinder nach Aufmerksamkeit und körperlicher Zuwendung, aber auch eine immer wieder auftauchende Aggression, die keinem direkten Ereignis zuzuordnen ist.

Wenn ich die Eltern nach ihren Reaktionen und Empfindungen frage, erhalte ich Antworten wie: „Ich neige zu einer Überversorgung bis hin zur Verzärtelung, habe dabei aber das Gefühl von ‚hier passt was nicht‘, i. S. von ‚ich werde weder den Kindern noch mir gerecht‘.“

Oder „Diese Daueranforderung nach Zuwendung überfordert mich. Ich merke wie ich innerlich aggressiv werde und gehe zu meinen Kindern auf Abstand, um sie und mich zu schützen.“

Wenn ich dann frage, wie gut sie selber als Kind emotional und mit Zärtlichkeit versorgt wurden, wird deutlich, dass es hier ein großes Mangelerleben gibt. Diese Situationen im Coaching haben mich veranlasst, hier das Thema „Zärtlichkeitsbedürfnis“ zu beleuchten.


„Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes“

Bereits 1908 hat Adler einen kurzen Aufsatz mit diesem Titel veröffentlicht als Ergänzung zu einem vorher publizierten Text zum „Aggressionstrieb“. Ich möchte hier keine Textexegese betreiben, dennoch die wesentlichen Gedanken vorstellen, da sie in ihrer Aussagekraft hochaktuell sind.

Das Begehren nach Zärtlichkeit kann seine Befriedigung erfahren durch eine „Umarmung, ein[en] Kuss, eine freundliche Miene, ein liebevoll tönendes Wort“ (Adler 1914, S. 64), zunächst durch die Eltern und nahe Bezugspersonen, später durch Erzieher*innen und Lehrer*innen und vor allem selbstgewählte Freunde und Freundinnen.

Aggression versteht Adler als eine ursprüngliche Kraft, als Aggredi, die sowohl schöpferisch als auch destruktiv sein kann.

In welche Richtung die Kraft wirkt, ist abhängig davon wie sehr der Einzelne sich sozial verbunden und in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlt oder ob er sich von der Gesellschaft abgehängt und isoliert wahrnimmt.

Feindselige Aggression (sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen) kann als Folge eines frustrierten Zärtlichkeitsbedürfnisses angesehen werden.

Für Adler ist das Zärtlichkeitsbedürfnis die Grundlage für das Bedürfnis nach Gemeinschaft (Gemeinschaftsgefühl), für Beziehungsfähigkeit.


Kontaktbeschränkungen in Corona-Zeiten

Wie gut Menschen durch die Zeit der Kontaktbeschränkungen kommen, hängt folglich im Wesentlichen von zwei Aspekten ab:

  • Haben Sie eine reale Person, mit der das Zärtlichkeitsbedürfnis gelebt werden kann?

  • Wie gut ist die eigene biografische Versorgung mit Zärtlichkeit?

Erwachsene, deren Zärtlichkeitsbedürfnis als Kinder nicht ausreichend versorgt wurde, stehen vor der Herausforderung, das eigene innere Kind angemessen zu versorgen.

Mangelnde Beziehungserfahrung in der Herkunftsfamilie kann nach Auffassung des Neurobiologen Joachim Bauer im Jugendlichen- und Erwachsenenalter kompensiert werden durch die Zugehörigkeit zu neuen „Gemeinschaften“.

Kann die Teilnahme an einer Anti-Corona-Maßnahmen-Demo ein solcher Ersatz sein?

Was die Gesellschaft jetzt braucht, ist, dass diejenigen, die über ein „gesättigtes“ Zärtlichkeitskonto verfügen, da, wo es ihnen möglich ist, den Mitmenschen „eine freundliche Miene“ (trotz Maske) und/oder „ein liebevoll tönendes Wort“ zukommen lassen.

 

Literatur:


Adler, Alfred: Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. In: Heilen und Bilden. Fischer, Frankfurt/M. 1973 (1914), S. 63 – 66


Adler, Alfred: Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. In: Heilen und Bilden. Fischer, Frankfurt/M 1973 (1914), S. 53 - 62


Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hoffmann und Campe. Hamburg 2007




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